Cynefin – Warum klassische Projektpläne oft ins Leere laufen

Cynefin macht sichtbar, in welchem Kontext wir entscheiden, und führt Teams weg vom Einheitsplan hin zu passendem Handeln, das in komplexen Situationen wirklich wirkt.

Alexander Sattler
Inhaber
September 11, 2025
Cynefin – Warum klassische Projektpläne oft ins Leere laufen

Cynefin – Warum klassische Projektpläne oft ins Leere laufen

Warum dieser Artikel?

Viele Unternehmen treffen Entscheidungen, als gäbe es nur eine Sorte von Problemen: klar analysierbar, linear lösbar, planbar. Doch das ist eine gefährliche Illusion. Die Realität zeigt: Unterschiedliche Probleme brauchen unterschiedliche Herangehensweisen. Das Cynefin Framework von Dave Snowden bietet ein Denkmodell, das Organisationen hilft, ihre Entscheidungen an den Kontext anzupassen – und damit bessere Ergebnisse zu erzielen.

Die Entstehungsgeschichte von Cynefin

Dave Snowden entwickelte das Cynefin Framework während seiner Zeit als Director of Knowledge Management bei IBM. Der Name stammt aus dem Walisischen und bedeutet "Lebensraum" – ein Ort, an dem man sich zugehörig fühlt. Diese Metapher ist bewusst gewählt: Jede Organisation und jeder Mensch ist geprägt von ihrer Geschichte, ohne dass sich daraus zwangsläufig die Zukunft ableiten ließe.

Das Framework entstand aus der Beobachtung, dass traditionelle Management-Ansätze in komplexen Situationen versagen. Snowden erkannte, dass nicht die Lösung das Problem ist, sondern das Missverständnis über die Art des Problems selbst.

Was ist das Cynefin Framework?

Cynefin ist kein Tool im klassischen Sinne, sondern ein kontextsensibles Rahmenwerk für Entscheidungsfindung. Es unterscheidet fünf unterschiedliche Problemdomänen, wobei jede eine spezifische Herangehensweise verlangt, die der jeweiligen Dynamik der Situation gerecht wird.

Das Besondere an Cynefin: Es zwingt nicht zu einer bestimmten Methode, sondern hilft dabei, die Natur eines Problems zu verstehen, bevor Lösungen entwickelt werden.

Domäne Ursache-Wirkung Handlungsmuster Führungsansatz Typische Beispiele Geeignete Methoden
Einfach Offensichtlich, vorhersagbar Wahrnehmen → Kategorisieren → Reagieren Klare Anweisungen, Überwachung Urlaubsanträge, Standardbestellungen Best Practices, Checklisten, SOPs
Kompliziert Analysierbar, nicht offensichtlich Wahrnehmen → Analysieren → Reagieren Expertise einbinden, evidenzbasiert Softwareauswahl, Anlagenbau Projektmanagement, Expertenberatung
Komplex Erst im Nachhinein erkennbar Experimentieren → Wahrnehmen → Reagieren Experimente fördern, Lernen ermöglichen Mitarbeitermotivation, Kulturwandel Scrum, Design Thinking, OKR
Chaotisch Keine erkennbare Ordnung Handeln → Wahrnehmen → Reagieren Schnelle Entscheidungen, Stabilisierung Krisensituationen, Marktdisruption Krisenmanagement, schnelle Experimente
Verwirrung Unklare Domänen-Zuordnung Innehalten und Kontext klären Perspektiven sammeln, gemeinsam einordnen Uneinigkeit über Problemart Workshops, Stakeholder-Alignment

Die fünf Domänen verstehen

Einfache Domäne: Wenn die Welt vorhersagbar ist

In der Domäne des Einfachen ist Ursache und Wirkung offensichtlich. Routinen und Best Practices sind hier wirkungsvoll.

Handlungsmuster: Wahrnehmen → Kategorisieren → Reagieren

Denken Sie an die tägliche Bearbeitung von Urlaubsanträgen oder die Abwicklung von Standardbestellungen. Hier gibt es bewährte Abläufe, die zuverlässig funktionieren. Innovation ist nicht nur unnötig, sondern kann sogar schädlich sein.

Führung in einfachen Situationen: Klare Anweisungen, Überwachung der Einhaltung, Optimierung bestehender Prozesse.

Komplizierte Domäne: Experten gefragt

Die Domäne des Komplizierten erfordert hingegen Expertise. Die Zusammenhänge sind analysierbar, aber nicht unmittelbar ersichtlich. Es gibt richtige Antworten, aber man muss sie erarbeiten.

Handlungsmuster: Wahrnehmen → Analysieren → Reagieren

Ein Beispiel: Die Auswahl einer neuen Buchhaltungssoftware. Viele Faktoren spielen eine Rolle (Kosten, Integration, Schulungsaufwand), aber durch systematische Analyse lässt sich die optimale Lösung finden. Hier sind Projektpläne, Expertenberatung und strukturierte Vorgehensweisen goldrichtig.

Führung in komplizierten Situationen: Fachexpertise einbinden, gründliche Analyse fördern, evidenzbasierte Entscheidungen treffen.

Komplexe Domäne: Das Reich der Experimente

Komplexe Probleme zeichnen sich dadurch aus, dass sich Ursache und Wirkung erst im Nachhinein erkennen lassen. Hier helfen keine Pläne, sondern nur Hypothesen, die man durch kleine Experimente testet.

Handlungsmuster: Experimentieren → Wahrnehmen → Reagieren

Stellen Sie sich vor, Sie wollen die Mitarbeitermotivation in Ihrem Unternehmen steigern. Unzählige Faktoren spielen eine Rolle, und was in einem Bereich funktioniert, kann in einem anderen wirkungslos sein. Nur durch systematisches Ausprobieren – kleinere Experimente mit einzelnen Teams – können Sie herausfinden, was wirklich wirkt.

Führung in komplexen Situationen: Experimentierfreude fördern, schnelle Lernzyklen ermöglichen, Scheitern als Lernchance verstehen.

Chaotische Domäne: Handeln vor Verstehen

Im Chaos hingegen herrscht keine erkennbare Ordnung. Schnelles Handeln ist notwendig, um überhaupt wieder Handlungsfähigkeit zu erlangen.

Handlungsmuster: Handeln → Wahrnehmen → Reagieren

Erinnern Sie sich an die ersten Wochen der Corona-Pandemie: Unternehmen mussten binnen Tagen komplette Arbeitsmodelle umstellen, ohne zu wissen, was funktionieren würde. Analysen oder Planungen hätten zu lange gedauert – entschlossenes Handeln war gefragt, um das System zu stabilisieren.

Führung in chaotischen Situationen: Schnelle Entscheidungen treffen, Stabilität schaffen, dann schrittweise in komplexere Bereiche überführen.

Verwirrung: Der gefährlichste Ort

Schließlich gibt es noch die Domäne der Verwirrung, in der zunächst unklar ist, in welchem Kontext man sich befindet.

Beispiel: Ein Unternehmen verliert Marktanteile. Die Führungsebene ist sich uneinig: Ist das ein einfaches Preisproblem? Ein kompliziertes Qualitätsthema? Oder ein komplexes Phänomen im Wandel der Kundenerwartungen? Diese Uneinigkeit über die Art des Problems ist selbst das größte Hindernis.

Das Vorgehen: Innehalten, verschiedene Perspektiven sammeln, den Kontext klären, bevor Maßnahmen ergriffen werden.

Das Framework als Entscheidungshilfe

Warum scheitern so viele Veränderungsprojekte?

Viele Veränderungsinitiativen scheitern nicht am fehlenden Willen, sondern an der falschen Methodik. Wenn ein Unternehmen versucht, ein komplexes Problem mit einer linearen Projektlogik zu lösen, wird es früher oder später scheitern. Umgekehrt bringt es auch nichts, einfache Probleme mit aufwendigen agilen Prozessen zu überfrachten.

Das Cynefin Framework ist deshalb so wertvoll, weil es einen Perspektivwechsel ermöglicht. Es zwingt dazu, die Art des Problems ernst zu nehmen – und dann bewusst zu entscheiden, wie man damit umgeht.

Von der Kontrolle zur Einflussnahme

In den geordneten Domänen (einfach und kompliziert) funktioniert Führung über Kontrolle und Steuerung. In den ungeordneten Domänen (komplex und chaotisch) geht es hingegen um Einflussnahme und Kontextgestaltung.

Diese Erkenntnis revolutioniert unser Führungsverständnis: Statt Probleme lösen zu wollen, gestalten wir Bedingungen, unter denen Lösungen entstehen können. Statt alles zu planen, schaffen wir Räume für produktive Experimente.

Innovation braucht Grenzerfahrung

Eine der wertvollsten Erkenntnisse von Cynefin: Echte Innovation findet an der Grenze zwischen komplex und chaotisch statt – dort, wo Unsicherheit am größten ist.

Traditionelle Unternehmen versuchen oft, Innovationen wie komplizierte Projekte zu behandeln: mit Businessplänen, Meilensteinplanung und ROI-Berechnungen. Doch Innovation lässt sich nicht planen – sie entsteht durch mutiges Experimentieren in unbekanntem Terrain.

Praktische Konsequenz: Schaffen Sie bewusst Freiräume für chaotische Experimente. Design Sprints, Hackathons oder Innovationslabs sind Versuche, kontrollierten Chaos-Raum zu schaffen, in dem Neues entstehen kann.

Führung im Wandel der Domänen

Das vielleicht Wichtigste an Cynefin: Probleme wandern zwischen den Domänen. Was heute komplex ist, kann morgen kompliziert werden, wenn wir mehr verstehen. Was einfach erscheint, kann plötzlich chaotisch werden, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern.

Beispiel: Die Einführung von Homeoffice war vor 2020 ein komplexes Thema (viele Unbekannte, experimenteller Charakter). Corona machte es chaotisch (sofortiges Handeln erforderlich). Heute ist es für viele Unternehmen kompliziert (bekannte Herausforderungen, aber Expertenwissen nötig) oder sogar einfach (etablierte Best Practices).

Führungsimplikation: Gute Führungskräfte erkennen diese Übergänge und passen ihren Stil entsprechend an. Sie wechseln zwischen direktiver Führung (in einfachen Situationen) und ermöglichender Führung (in komplexen Situationen).

Verbindung zur Transformation Discovery Map

In der Transformation Discovery Map ist Cynefin vor allem in drei Dimensionen anschlussfähig:

Adaptive Innovation: Das Framework zeigt, dass echte Neuerung nicht planbar ist, sondern aus dem Zusammenspiel von Experiment, Feedback und emergentem Lernen entsteht. Innovation bewegt sich naturgemäß in der komplexen Domäne.

Reaktionsfähige Strategie: Cynefin macht deutlich, dass Strategie heute nicht mehr aus dem Reißbrett kommt, sondern sich in der Interaktion mit dynamischen Märkten und Organisationen weiterentwickelt. Strategische Entscheidungen müssen kontextspezifisch getroffen werden.

Systemwirksame Führung: Das Framework liefert die Grundlage, um Führung nicht als Steuerung, sondern als Kontextgestaltung zu verstehen. Je nach Domäne sind völlig unterschiedliche Führungsansätze erforderlich.

Praktische Anwendung des Frameworks

In Workshops und Meetings

Nutzen Sie Cynefin als Diskussionsgrundlage: "In welcher Domäne bewegen wir uns mit diesem Thema?" Diese einfache Frage kann stundenlange Diskussionen über Methoden und Vorgehensweisen ersetzen.

Bei der Projektplanung

Bevor Sie ein Projekt aufsetzen, klären Sie die Domäne. Ein einfaches Problem braucht einen anderen Projektansatz als ein komplexes. Das spart Zeit, Geld und Nerven.

In der Methodenauswahl

Agile Methoden sind nicht universell besser – sie sind in bestimmten Domänen besser. Cynefin hilft zu verstehen, wann Scrum, Design Thinking oder klassisches Projektmanagement angebracht sind.

Bei Teamkonflikten

Oft entstehen Konflikte, weil Teammitglieder das gleiche Problem in unterschiedlichen Domänen verorten. Der eine will planen (kompliziert), der andere experimentieren (komplex). Cynefin schafft eine gemeinsame Sprache für diese Diskussion.

Was Cynefin nicht ist

Cynefin ist kein Wundermittel. Es löst keine Probleme. Aber es hilft, sie richtig einzuordnen. Es ist kein Tool zur Projektsteuerung und kein Prozessleitfaden. Seine Wirkung entfaltet es dort, wo Menschen bereit sind, den ersten Schritt zu tun: innezuhalten und sich zu fragen, worin genau eigentlich das Problem besteht.

Diese Pause, dieser Moment der Klärung, ist oft entscheidender als die anschließende Maßnahme.

Der Weg zur lernenden Organisation

Organisationen, die Cynefin verstehen und anwenden, entwickeln eine wichtige Fähigkeit: Sie werden kontextsensitiv. Sie erkennen, wann sie Standards brauchen und wann sie experimentieren müssen. Wann sie auf Expertise setzen sollten und wann sie mutig ins Unbekannte vorstößen müssen.

Diese Kontextsensitivität ist vielleicht die wichtigste Zukunftskompetenz überhaupt. Denn in einer Welt, in der sich die Domänen schnell ändern, überleben nicht die Stärksten oder Klügsten, sondern die Anpassungsfähigsten.

Fazit: Entscheidungen beginnen mit Einordnung

Cynefin ist ein Denkwerkzeug für eine komplexe Welt. Es erinnert uns daran, dass nicht jedes Problem ein Projekt ist. Und dass nicht jede Unsicherheit durch Planung verschwindet. Wer lernt, die Situation zu lesen, bevor er handelt, wird bessere Entscheidungen treffen – und eine Organisation gestalten, die lern- und handlungsfähig bleibt.

Das Framework funktioniert wie ein Kompass: Es zeigt nicht den Weg, aber es hilft bei der Orientierung. Und manchmal ist das wichtiger als jeder noch so detaillierte Plan.

Zum Weiterdenken: Welche aktuellen Herausforderungen in Deiner Organisation sind wirklich komplex? Und was würde sich verändern, wenn Du sie nicht mehr wie komplizierte Projekte behandeln würdest?

Zum Weiterlesen:

  • Dave Snowden: A Leader's Framework for Decision Making (Harvard Business Review)
  • Problem Framing Playbook (Design Sprint Academy)
  • The Cynefin Co: thecynefin.co